Irrwitzig verrückt

Kurzgeschichte
Kurzgeschichte "Irrwitzig verrückt"

Diese im Stil eines Stream of Consciousness geschriebene Popliteratur-Erzählung entstand als Sound-Probe eines möglichen neuen Romans. Es sollte um einen ziemlich durchgeknallten jungen Künstler gehen. Aus dem Roman wurde nichts, die Geschichte vom irrwitzig-verrückten Schluckauf ist geblieben. 

Ein halbverrückter, exotischer Schluckauf befällt mich. Es ist gar kein richtiger Schluckauf, weil er sich nur einmal in einer halben Stunde bemerkbar macht, dafür aber umso lauter. Die ganzen Leute in der Pizzeria schauen mich an, als hätte ich gerade einen epileptischen Anfall erlitten. Jeden Moment ruft jeder "Ist hier ein Arzt?" Aber ich lebe noch und ich habe noch eine gute halbe Stunde, um aus dem Lokal zu flüchten, bevor wirklich jemand den Arzt holt.

Die feine Gesellschaft verabschiedet sich. Zwei Glaserl Wein sind genug für einen Samstagabend und alle Gähnen und freuen sich aufs Bett. Soll mir Recht sein, ich hab mir längst genug Mut angetrunken, um den Samstag zu erobern.

Weil ich fürchte, dass es sich die anderen doch noch überlegen und mich begleiten, laufe ich auf einmal davon, ohne Abschiedsgruß. Hoch die Treppen vom Stadtberg. Es ist kälter als gedacht und der Optimist, der ich noch vor einigen Stunden war, kleidet sich immer zehn Grad kühler, als es tatsächlich ist. Am Stadtplatz ist die Hölle los. Tausende Menschen rauchen vor den Lokalen und ich muss dringend pinkeln. Da der Stadtplatz ein in sich geschlossenes Häuserensemble ist, gibt es weit und breit kein Flecken Natur, wo man sich ohne schlechtes Gewissen erleichtern könnte. Weil die Leute schon schauen, warum ich so ungeduldig schaue, laufe ich den Stadtberg wieder runter in Richtung Au und biesle einfach am Parkplatz vor dem Reformhaus. Ist doch sowieso alles öko, da wird sich schon keiner aufregen. 

Ich bin ein Mensch, der gerne in den Schnee pinkelt. Weil es a) so schön dampft und es b) physikalisch faszinierend ist, wie das Eis erst langsam, dann immer schneller dahinschmilzt. Und weil man sein Urin, wie ein Beamter mit gelbem Stempel in den Schnee drückt. Amerikanische Forscher haben in Brasilien einmal Beton in einen Ameisenbau gespritzt, den dann ausgegraben und anhand der riesigen Betonkonstruktion in der Erde wahnsinnig interessante Dinge über die Ameisen herausgefunden. Man sollte eigentlich auch die gefrorenen Pinkellöcher aus dem Eis ausgraben, um anhand der verwendeten Muster den Charakter des Bieselnden zu analysieren. Meine Technik ist die, dass ich ein möglichst tiefes Loch in den Schnee biesle. Mit Namen-pinkeln hab ichs nicht so. Ein letztes ungelöstes Problem beim Wildbieseln ist allerdings das Bedürfnis, sich anschließend die Hände zu waschen. 

Es ist komisch, dass man das auf einem normalen Klo nie hat, nur immer dann, wenn man‘s nicht kann. Ich greife einmal in den Schnee und hoffe, dass es der weiße war. Jetzt aber weiter.

Der Eintritt ist teuer, die Musik ist laut und der Club verraucht. Es ist Wochenende. Montag bis Donnerstag Büro, Freitag bis Sonntag Boheme. Der Club wird von einer angenehmen Mischung aus jungen wilden Leuten und reiferen, jung gebliebenen Langhaarigen besucht. Man kommt sich dort nicht ganz so alt vor wie in den angesagten Clubs, wo sich selbst die jungen meist alt fühlen. Mich wundert es dann immer, wo der vielzitierte Jugendwahn geblieben ist. Oder warum der nicht dorthin geht, wo es wirklich angesagt ist, sondern die ergrauten Jugendwahnsinnigen stur in dieselben Clubs und Kneipen gehen, in denen sie selber einmal vor zwanzig Jahren die jungen, wilden waren. Genauso ist es hier. Aber weil die Musik heute jung ist, sind auch die momentanen Jungen Wilden gekommen. Aber natürlich ist auch das Stammpublikum aus den Neunziger Jahren ebenfalls da. Was sollen sie sonst auch machen? Es ist Samstag!

Ich schaue mich um und mir fällt spontan eine neue Definition von Erwachsenwerden ein: In jungen Jahren schaut man sich die Konzerte von der ersten Reihe aus an und hat nur Augen für die Band und die Musik und kreischt ab und an, kurz vor einer ekstatischen Ohnmacht. In den wilden, guten Jahren ist man ganz vorne, genau in der Mitte vor der Bühne und tanzt wie ein verrückter. Je älter man dann wird, desto weiter hinten platziert man sich, desto weniger tanzt man aufgrund Ischias und Bandscheiben und so. Ganz am Schluss steht man nicht einmal mehr in der Mitte, sondern links oder rechts seitlich der Bühne, je nachdem wo sich die Pilsbar befindet und fragt sich, woher dieser komische Schluckauf kommt. Ich gehe auch schnurstracks an die Bar und hole mir einen Cuba Libre und das war dann auch die genau richtige Entscheidung!

Da steht sie, als wartete sie auf mich. Sie schaut mich an, als kennt sie mich und sie schaut genau so aus, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Diese Ausgeburt von Utopia. Wieso schaut sie so, warum trägt sie genau das Kleid, das mich wahnsinnig macht und das so kurz ist, dass man ihre Arme sieht und an den Armen merkt man sowieso, ob jemand jetzt wirklich attraktiv ist, oder auch nicht. Über ihrer Brust trägt sie ein goldenes Medaillon, verdammt, muss sie denn alles richtig machen? Oder mag ich das Medaillon einfach deshalb, weil sie es trägt? Na klar, die Augen. Die Augen sowieso. Die sehen mich an, als wüssten sie, dass ich der Augentyp bin, der auf Augen steht, den Augen umhauen. Sie hat ein ewig junges Mädchengesicht, das sicher in zehn Jahren keinen Millimeter anders ausschaut, auch wenn sie dann nicht mehr zu den jungen gehört und zu den wilden auch nicht und links von der Bühne Bier trinkt.

Wir reden sofort, als sei es eine Selbstverständlichkeit, über die Gefahren des Internets und dass wir die Demokratie verteidigen müssen. Ich rede überhaupt viel und komme mir furchtbar gescheit vor, weil ich seit Tagen wie ein Besessener Bücher über das Dritte Reich lese und mein Gehirn zudröhne mit Wissen, bis es platzt. Sie sagt auch gescheite Sätze, aber sie macht sowieso alles richtig. Sie hätte auch sagen können, dass sie Rockantenne hört und ich hätte sie trotzdem vergöttert. Aber dann will sie auf die Tanzfläche gehen und erst jetzt bemerke ich diesen irren Altersunterschied und wie laut mein Schluckauf ist. Ich könnte ihr Vater sein, sagt man doch so gerne. Diesmal stimmt‘s wohl. Mit dem Unterschied, dass ich mit 13 noch zu schüchtern war, um Mädchen, die aussahen wie ihre Mutter damals vermutlich, anzusprechen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte und um ein Haar erzähl ich sie ihr auch, aber so wahnsinnig bin ich dann auch wieder nicht. Ich wippe mit dem Cuba Libre in der Hand und weiß natürlich, dass sie tanzen will. Also mache ich mich rar, verschwinde wieder, sie soll ihre Jugend nicht an mir verschwenden und verknallt bin ich sowieso schon, also flieg, süßer Vogel Jugend.

Ich renne aufs Klo und treff dort jemanden, der viel wahnsinniger ist als ich es jemals war und kriege einen Lachanfall. Weil er im Klo sitzt und auf seinen Kumpel wartet. Ich lache gar nicht deshalb, weil er auf dem Klo sitzt, sondern weil er es ist und ich verknallt bin und sowieso alles witzig finde. Er sagt, er wartet auf sein Geheimtreffen und tut furchtbar geheimnisvoll, dabei wollen sie nur einen durchrauchen und ich schrei „Yeah!“ und frage, ob das gegen Schluckauf hilft. Er zuckt die Achseln und ich kündige an, heute alle erdenklichen Dummheiten mitzumachen, einfach weil Samstag ist und das Leben zu schön, als es zu zerdenken. Sein Kumpel kommt, wir sitzen auf einer Couch und er schreit noch, wir sollten alle am Montag kündigen und ich inhaliere und denke, ist doch scheißegal. Im nächsten Moment werde ich hysterisch, weil ich begreife, dass wir uns in einer Höhle befinden und ich rechne damit, dass jeden Moment der Fels einstürzt und uns alle bei lebendigem Leib zermalmt. Wasser tropft von der Decke und ich ducke mich, zum Glück, es ist nichts passiert, nur mein Schluckauf hallt von den Wänden wieder. An der Bar steht die Wunderschöne von vorhin und ich stelle mich zu ihr und schweige sie an, als hätten wir uns absolut nichts zu sagen. Das ist peinlich, aber konsequent. Sie fragt irgendwann, ob ich ihr jetzt noch was zu trinken bestellen werde und ich sag „Na klar!“, aber da ist längst schon alles verloren. Da hat sie schon begriffen, wie atemberaubend sie ist und ich hau lieber ab, bevor sie es mich spüren lässt. 

Will die eine, wolln sie alle, oder auch nicht, denke ich. Da steht auf einmal die eine, wegen der ich eigentlich da bin, vor mir und ich falle ihr um den Hals und lache sie aus, lache weil sie nicht mehr meine größte kleine Liebe ist und amüsiere mich köstlich, dass ich mich von nun an gar nicht mehr für sie interessiere werde. Aber sie hat keine Ahnung, die Lustige und fragt, was ich denn geraucht hätte. Ich quatsche sie voll und frage sie, was man gegen irrwitzige Schluckäufe tun kann und erzähle ihr von meiner Lebenstheorie und kann ihr endlich unverblümt sagen, was ich denke und was mich halb wahnsinnig macht. Ich sag ihr, dass ich so eine seelische Sehnsucht spüre, so eine Art erotisches Heimweh und sie hält mich für verrückt, macht aber den Spaß mit und ich verwechsle total, welche Rolle ich ihr gegenüber spielen soll, hab keine Ahnung, ob ich ihr Kumpel bin, oder ihr Verliebter und weil ich sowieso ein Rollenidentätsproblem habe, stimme ich ihr zu, dass diese und jene in der Tat eine große Oberweite habe, verrate aber nicht, ob ich das jetzt toll oder nicht so toll finde.

Aus den Augenwinkeln sehe ich eh die Bezaubernde von vorhin, die sich auf ein Sofa gesetzt hat und gelangweilt so tut, als habe sie nichts zu tun und sie denkt wohl, ich merk das nicht und tu so, als sei ich furchtbar beschäftigt und quatsche mit meiner einstigen Favoritin weiter und rede mich um Kopf und Kragen, bis mich von hinten jemand packt, und schreiend und lachend fragt, ob ich mich erschrocken habe und ob mein Schluckauf noch da sei. Ja, er ist noch da, aber sie ist weg. Mit einem der Typen, die wesentlich jünger und wilder sind als ich.

Halb verrückt vor Eifersucht haue ich ab, ohne mich von irgendeinem dieser beknackten Fabelwesen zu verabschieden. Was stellen sie denn schon dar mit ihrer Vollkommenheit und ihrem scheißverdammten Charme und ihrer irrwitzigen Schönheit? Nichts! Nicht mal in Ruhe unterhalten kann man sich mit denen, ohne dass man sich selber wie ein ungebildeter Idiot vorkommt. Ich habe genug gesehen und stürze mich hinaus in den Schnee, schmeiße mich in den Kanal und hoffe zu ertrinken, aber es ist zu wenig Wasser drin. Der Mond knallt aggressiv herunter und ich kann das im Moment überhaupt nicht haben, so fuck you moon! Schreie ich und renne nach Hause, als ob das noch irgendwas ändern würde. Und erst, als ich die Decke anstarre und sich alles dreht, merke ich, dass der Schluckauf nicht mehr da ist.

 

Ende

 


Hier kannst Du den Text teilen, kommentieren, weiterempfehlen:

Kommentare: 0